Wie Binette Schroeder zu NordSüd fand

Binette Schroeder trug einen roten Turban und roten Lippenstift zum Interview. Sie erzählte lebhaft und farbenfroh aus ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit dem NordSüd Verlag. An ihrer Seite sass ihr Mann Peter Nickl, der einige ihrer Bücher geschrieben hat und den Verlag ebenfalls wie seine Westentasche kennt. Die beiden tanzten elegant und voller Erzählfreude gemeinsam durchs Interview mit Pascale Blatter.

Wie kam dein erstes Buch »Lupinchen« zum jungen NordSüd Verlag?

1968 war ich als frisch ausgebildete Grafikerin mit einer riesigen Mappe unter dem Arm auf der Frankfurter Buchmesse unterwegs auf der Suche nach einem Verlag für mein erstes, fertiges Bilderbuch »Archibald und sein kleines Rot«. In der Mappe waren auch noch zwei Gouachen, zu denen es allerdings noch keine Geschichte gab. Ich hatte eine lange Liste mit den wichtigsten Kinderbuch-Verlagen dabei und ging von Stand zu Stand. Man schaute sich meine Illustrationen so nebenher an und meinte »ganz schön«, ich könne sie ja mal schicken, man gäbe mir dann nach etwa zwei, drei Monaten Bescheid. Das gefiel mir gar nicht, ich hätte gerne gleich ein klares Ja oder Nein gehabt.

Als letzter Name auf der Liste stand der NordSüd Verlag. Dort saß ein sehr gut aussehender, älterer Herr mit grau melierten Haaren, einem Errol-Flynn-Schnauzbärtchen und leuchtend blauen Augen – Dimitrije Sidjanski. Die Wände seines winzigen Standes waren mit schwarzen Stoffbahnen ausgekleidet, auf denen gerahmte Original-Illustrationen leuchteten. Der Verleger sprach Deutsch mit slawischem Akzent und sagte zu mir: »Ich habe zehn Autoren und zehn Illustratoren, mehr brauche ich nicht – aber … zeigen Sie!« Er guckte sich den »Archibald« an, der gefiel ihm nicht sonderlich. Dafür gefielen ihm meine beiden Gouachen umso mehr. Er erkundigte sich nach der Geschichte, und ich erklärte, dass es dazu noch keine gäbe. Er entgegnete: »Gehen Sie nach Hause, schreiben Sie eine Geschichte und kommen Sie morgen früh wieder. Wenn mir die Geschichte gefällt, gebe ich Ihnen eine erste Option.« Ich hatte keine Ahnung, was eine erste Option ist. Meine Freundin Ursuline, bei der ich in Frankfurt wohnte, erklärte mir später, dass es sich dabei um eine Vorstufe zu einem Vertrag handle.

Bei Ursuline setzte ich mich sofort an den Schreibtisch. Ich weiß nicht, wie es geschah – aber auf einmal war da eine Geschichte zu diesen beiden Illustrationen! Ursuline tippte sie ins Reine. Um vier Uhr früh fielen wir beide todmüde ins Bett. Pünktlich um neun Uhr war ich wieder auf der Messe. Dimitrije Sidjanski las den Text und sagte nur: »Gefällt mir. Gebe ich Ihnen erste Option!« Und so erschien »Lupinchen« im NordSüd Verlag.

Wie entstanden die ersten beiden »Lupinchen«-Bilder?

Mit diesen zwei Blättern, auf die Dimitrije Sidjanski auf der Messe als Einziger angesprungen war, hat es in der Tat eine besondere Bewandtnis: Sie entstanden aus Liebeskummer. Eine Liebe war an einem Tag mit herrlichstem Frühlingswetter zu Ende gegangen. Ich zog in meiner kleinen Berliner Wohnung alle Vorhänge zu und warf mich unglücklich aufs Bett. Plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge ein Bild auf. Es war wie ein Diapositiv, das sich hinter meinen Lidern herabsenkte! Lange betrachtete ich dieses Bild, dann sprang ich auf und malte es. Anschließend legte ich mich wieder hin, und es dauerte nicht lange, da erschien das zweite Bild. Diese beiden Bilder kamen aus meinem »innersten Inneren«, ohne jede Planung und Konzeption, und sie wurden dann auch die ersten beiden Bilder im Buch. Für mich ist »Lupinchen« nicht nur mein erfolgreichstes Buch, sondern bis heute auch das wichtigste.

Für mich ist »Lupinchen« das wichtigste Buch.

Binette Schroeder

»Lupinchen« erschien bereits 1969. Von der »ersten Option« zum Vertrag ging es schnell. Wie war dieser Start, aus dem die lebenslange Verbindung heranwuchs?

Um einen Vertrag über mein erstes Buch abzuschließen, fuhr ich mit meinem kleinen VW von Berlin nach Mönchaltorf. Der Verlagssitz befand sich im Einfamilienhaus der Familie. Brigitte Sidjanski empfing mich, wir verstanden uns auf Anhieb. Ihre kraftvolle Stimme und ihr dunkles, tiefes Lachen gefielen mir. Verhandelt wurde im Wohnzimmer an einem niedrigen Glastisch. Brigitte Sidjanski servierte Tee und ein paar Kekse. Tarka, ihre Afghan-Hündin, gesellte sich dazu und saß wie eine englische Lady mit elegant übergeschlagenen Hinterbeinen auf dem Sofa. Brigitte und Dimitrije verließen nach den Verhandlungsgesprächen das Zimmer, um den Vertrag aufzusetzen.

Ich saß mit Tarka lange allein am Tisch. Plötzlich streckte sie ihren langen Hals aus und näherte sich mit ihrer aparten Schnauze dem Sahnetöpfchen. Ich rief: »Nein, Tarka! Nein!« Aber sie ließ nur ein drohendes, leises Knurren hören und schleckte in aller Seelenruhe genüsslich das Sahnetöpfchen leer. Ich fühlte mich von Anfang an wohl in diesem Verlag. Es war alles familiär, und dabei auch sehr speziell und außergewöhnlich.

Du hattest dein Glück als Bilderbuchillustratorin in Frankfurt gesucht und gefunden. Es gab seit 1964 auch die internationale Kinderbuchmesse in Bologna, die du danach ebenfalls regelmäßig besucht hast. Welche Erinnerungen verbindest du mit Bologna?

Ich bin immer gerne zur Buchmesse nach Bologna gefahren und erinnere mich auch an die Zeit, als die Messe noch im Zentrum der Stadt in einem alten italienischen Palazzo stattfand und nicht wie heute auf dem Messegelände. Das waren wirklich legendäre Zeiten! Die europäische Kinderbuch-Szene war damals in einer enormen Aufbruchsstimmung, und in Bologna ließ sie es krachen! Es gab ein Messe-Buffet mit einem Tisch, der kein Ende zu nehmen schien und auf dem die fantastischsten Speisen vor uns ausgebreitet wurden. Wir fühlten uns zu Hause in der italienischen Gastronomie. Und wir fühlten uns zusammengehörig als europäische Kinderbuch-Clique.

Ein farbenfroher Turban gehört zu deinen Markenzeichen, und du trägst bis heute manchmal verschiedenfarbige Schuhe. Deine Mutter war Kostümbildnerin. Das Thema Theater taucht auch in deinen Bild-Kompositionen auf: Deine Bücher verbinden oft eine hermetische Szenerie wie auf einer Bühne mit diesen leuchtenden, beinahe entrückten Farben. Wie hast du deinen Stil entwickelt?

Meine Ausbildung an der Schule für Design in Basel hat mich geprägt. Sie baute konsequent auf einem fundierten Zeichenunterricht auf. Im ersten Jahr durften wir nur schwarz-weiß arbeiten. Erst ganz allmählich schlichen wir uns vorsichtig über vergraute Farbtöne – Graugrün, Graublau, ein vergrautes Gelb oder Rot – in die Farbe hinein. So konnte ich mein ausgeprägtes Feingefühl für die großen Variationsmöglichkeiten der Farben entwickeln.

Farbige Bildhintergründe spielten später in meiner Arbeit eine zentrale Rolle. Um eine ganz spezifische Transparenz und Luzidität zu erreichen, hatte ich eine eigene Technik entwickelt. Ich verwendete spezielles Papier und legte dieses ins Wasser, holte es nach kurzer Zeit wieder heraus und rieb dann die Farben mit einem weichen Lumpen vorsichtig in das feuchte Papier. Damit erzielte ich diese intensive Farbigkeit. Heute verwende ich Deckweiß nur noch selten. Ganz helle Stellen, wie das Licht in einem Auge, schabe ich vorsichtig mit einer Rasierklinge aus dem Papier heraus. Eine befreundete amerikanische Malerin, die ich aufforderte, dies doch auch zu versuchen, rief entsetzt: »But I’m not a scratcher! I am a painter!« Heute arbeite ich vorwiegend mit Pastellkreiden und Buntstiften.

In deinem Buch »Laura« und auch schon in »Lupinchen« tritt der eiförmige Charakter Humpty Dumpty auf. Welche Rolle spielt er in deinem Werk?

Humpty Dumpty ist im angelsächsischen Raum eine bekannte Kinderbuchfigur. Er ist in gewisser Weise eine Referenz an meine wunderbare amerikanische Großmutter väterlicherseits. Sie stammte aus einem jüdischen Textilhaus in Baltimore und überlebte den Zweiten Weltkrieg in Hamburg nur, weil offenbar niemand von ihrer jüdischen Herkunft wusste; und wenn doch, sie glücklicherweise nie verriet. Das Haus meines Großvaters in Hamburg war für mich als Kind ein in sich abgeschlossener Kosmos. Er selbst war ein weltgewandter Überseekaufmann mit höchsten kulturellen Ansprüchen. Seine Bibliothek war eine Zauberwelt, in die er mich persönlich einführte. Natürlich durfte ich keines seiner kostbaren Bücher selbst in die Hand nehmen. Auf seinen Knien sitzend, zeigte er mir Pieter Bruegel und Hieronymus Bosch. Sie übten eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Diese Bildeindrücke haben mein Werk tief geprägt. Viele Elemente, die in meinen Bildern wiederkehren, haben ihre Wurzeln in diesem großelterlichen Haus.

Im Alltag schule ich meinen Blick fürs Surreale.

Binette Schroeder

Deine Bildsprache erinnert oft an Surrealisten, von den kühlen Alleen eines Giorgio de Chirico bis zu den zerfließenden Uhren eines Salvador Dalí. In deinem »Froschkönig« von 1989 taucht ein Hund mit Menschengesicht auf. Was verbindet dich mit dem Surrealismus?

Mein Hang zum Surrealismus ist ausgeprägt. Surrealistische Elemente finden sich in meinen Bildern zuhauf: Steine, Pflanzen, Berge tragen Gesichter, Bäume haben Hosen und Schuhe an, Tische stehen auf Tier-Beinen. Frühe Anregungen finden sich in den Bildwelten von Bosch und Bruegel. Aber auch im Alltag schule ich meinen Blick fürs Surreale. Vieles nehme ich dabei sicher auch unbewusst auf und erinnere mich dann nicht mehr genau an das Woher.

Der angesprochene Hund im »Froschkönig« ist allerdings sehr konkret. Er ist eine bewusste Hommage an meinen Kollegen und Freund Klaus Ensikat, den ich sehr verehre. Das Halsband trägt seine Initialen: K. E. Meine surrealistischen Wurzeln liegen jedoch zweifellos in der Natur. Ich glaube ohnehin: Natur und Surrealismus sind irgendwie verwandt. Die Fantasie der Natur ist überbordend und übersteigt die Fantasie des Menschen. Der Surrealismus tut dies auf seine Weise auch. Ich habe mir die Natur immer belebt von Wesen vorgestellt. Zum Beispiel war ich als Kind fest davon überzeugt, dass es Zwerge gibt, und hielt Ausschau nach den Eingängen ihrer Wohnungen in den Wurzeln von alten Bäumen.

Seit wann hast du gewusst, dass du Illustratorin werden willst?

Ich wusste schon im Alter von zehn Jahren, dass ich Bilderbücher machen will. Als Primarschülerin schrieb ich kleine Geschichten und illustrierte sie. Meist waren sie inspiriert von Märchen oder von der Bibel. Allerdings wollte ich wenig später dann auch Nonne werden und mit wehendem Schleier auf einem Schimmel im Sturm am tosenden Meer entlangreiten! Ich bin dann doch Illustratorin geworden. Und mein allererstes Bilderbuch »Archibald«, das Dimitrije Sidjanski nicht wollte, ist nun doch noch im NordSüd Verlag gelandet. Es ist Teil der umfassenden Werkschau, die Herwig Bitsche 2019 zu meinem achtzigsten Geburtstag verlegt hat unter dem Titel »Bilderbuch-Brunnen«.

Binette und den NordSüd Verlag verbinden eine über fünf Jahrzehnte dauernde Zusammenarbeit. Binette war eine leidenschaftliche Kämpferin für die höchsten Ansprüche im Bilderbuch. Weniger als das Beste darf man einem Kind nicht zumuten. Mit ihr Bücher zu machen war immer ein Abenteuer: bereichernd, berührend, dramatisch, und am Ende beglückend.

Adieu Binette! Wir vermissen dich!

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