Ein Nashorn kommt selten allein

Ludwig ist überzeugt, dass sich in seinem Zimmer ein Nashorn befindet. Unmöglich! Findet sein Vater. Doch kann er das auch beweisen? Ludwig und das Nashorn ist eine philosophische Gute-Nacht-Geschichte, geschrieben von Noemi Schneider und illustriert von Golden Cosmos. Uns hat die Autorin erzählt, wie sich das Nashorn in ihr Buch geschlichen hat.

DENKEN IST WIE GOOGLEN NUR KRASSER – eine Postkarte mit diesem Spruch schenkte mir eine gute Freundin vor vielen Jahren. Der Satz könnte auch von meinem Nashorn stammen.

Mein Nashorn begleitet mich schon eine ganze Weile. Gefunden hat es mich vor über acht Jahren in London. Damals besuchte ich eine Ausstellung im British Museum mit dem Titel »Germany – Memories of a Nation«, kuratiert von Neil MacGregor. Unter den Ausstellungsstücken befand sich ein großes Porzellan-Nashorn – eine Nachbildung des berühmten Rhinocerus-Holzschnitts von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1515. Das Besondere an Dürers Rhinozeros ist, dass der Künstler niemals ein Nashorn mit eigenen Augen gesehen hat und seinen Holzschnitt nur auf der Basis einer Beschreibung und einer Skizze anfertigte. Deshalb trägt sein Rhinozeros ein Horn auf der Nase und eines auf dem Rücken, denn irgendwas hat der Meister wohl falsch verstanden.

Die Porzellanmanufaktur Meißen fertigte im Jahr 1731 ein Porzellan-Nashorn nach Dürers-Holzschnitt an, das in der Ausstellung zu sehen war. Auch dieses Nashorn trägt noch ein Horn auf dem Rücken, denn das erste echte Nashorn mit dem Namen Clara kam erst im Jahr 1741 auf Europa-Tour. Der Souvenir-Shop am Ausgang der Ausstellung in London war, zu meiner Überraschung und Freude, voller Nashörner. Ich habe mir damals einen kleinen Schlüsselanhänger gekauft, der mich seither immer daran erinnert, dass man, wenn man an Deutschland denkt, auch an ein Nashorn denken kann und dass Kunst eine genauso wichtige zivilisatorische Errungenschaft ist, wie beispielsweise die Konstruktion eines Autos.

Das Nashorn versinnbildlicht für mich das Denken und Nachdenken.

Noemi Schneider

Von da ab sind mir ständig Nashörner begegnet. In Theaterstücken, in Filmen, in der bildenden Kunst und in Büchern. Als ich mich vor ein paar Jahren mit dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein beschäftigte, ist mir auch wieder eines unterkommen. Im Jahr 1911 konnten sich der junge Philosophie-Student Ludwig Wittgenstein und sein Professor, der Mathematiker, Logiker und Philosoph Bertrand Russell an der englischen Universität Cambridge nämlich nicht darauf einigen, das KEIN Nashorn im Raum war. Bertrand Russell sah überall nach, doch Ludwig Wittgenstein reichte das nicht als Beweis aus. Lässt sich beweisen, dass etwas NICHT da ist? Diese Frage ist der Ausgangspunkt meiner Geschichte, die junge Leser:innen dazu ermutigen soll, sich auf das Abenteuer »Denken« einzulassen.

Neben Kunst und Kultur versinnbildlicht das Nashorn für mich das Denken und Nachdenken. Eine wunderbare Fähigkeit, die wir Menschen haben, die es uns ermöglicht, diese Welt zu verstehen und zu hinterfragen und Erkenntnisse zu gewinnen, die es uns erlaubt, uns zu irren und zu erkennen, dass wir uns geirrt haben, was mindestens genauso wichtig ist.

»Wer A sagt, der muss nicht B sagen, er kann auch erkennen, dass A falsch war« – diese Worte stammen von Bertold Brecht, obwohl mein Nashorn behauptet, dass sie eigentlich von ihm sind.

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