Der magische Kern

Ellie schmollt. Gestern hat sie ihren Geburtstag gefeiert und trotzdem ist sie heute kein bisschen größer! Da verrät Ellies Papa ihr ein Geheimnis. Sie sei wie der Kern einer Avocado, klein aber voller Magie. In ihrem neuen Buch Bravo, Avocado! erzählt Taltal Levi eine einfühlsame Geschichte über den Zauber des Wachsens. Wir durften sie in ihrem Atelier besuchen.

Zu deiner Geburt hat deine Mutter einen Baum gepflanzt. War es ein Avocadobaum?

Taltal: In der kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen bin, lebte ein alter Gärtner, der jedem neugeborenen Baby einen Baum schenkte. Als ich geboren wurde, schenkte er meiner Mutter einen Walnussbaum, den sie in unserem Garten pflanzte. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich das erste Mal auf den Baum kletterte. Die Äste waren noch ziemlich dünn und zerbrechlich, aber dennoch stabil genug, um mich zu tragen.

Erinnern Avocados dich an deine Kindheit?

Sehr stark sogar. Unsere Nachbarn hatten zwei riesige Avocadobäume, die bis in unseren Garten reichten und sogar ihren Schatten auf unseren Hauseingang warfen. Wenn die Früchte im Herbst reif waren, pflückten wir sie frisch vom Baum oder sammelten sie vom Boden auf. Wir wickelten sie in Zeitungspapier ein und warteten ein oder zwei Tage, bis sie weich waren. Zu meinem Lieblings-Schulbrot gehörte immer eine Avocado von diesen Bäumen, zusammen mit dem köstlich scharfen Chili- und Petersilienaufstrich meines Vaters. Das ist bis heute eines meiner Lieblingsgerichte.

Wie entstand die Idee zu Bravo, Avocado!

Am Anfang hatte ich ein Bild im Kopf: Ein Kind, das ungeduldig auf ein Samenkorn schaut und darauf wartet, dass sich etwas tut. Aus irgendeinem Grund brachte mich das zum Lachen, aber gleichzeitig erinnerte es mich daran, dass das Konzept der Zeit für mich als Kind so schwer zu verstehen war. Minuten fühlten sich wie Stunden an und Wochen wie Monate, vor allem, wenn man etwas Spannendes und Neues erwartete. 

Das war der erste Gedanke, den ich irgendwo aufschrieb und dann aber beiseite legte. Aber das Bild tauchte immer wieder auf und ich überlegte, wie ich eine Geschichte daraus machen könnte. Es könnte um Geduld gehen, aber auch um Wachstum und das Vergehen von Zeit, um Familie und die Tradition, gemeinsam Bäume zu pflanzen. Das alles fügte sich nach und nach zusammen. Und ich dachte, es wäre interessant, ein Motiv zu finden, das zusammen mit der Protagonistin das Fortschreiten der Zeit im Buch darstellen könnte. Ich habe mich für die Avocado entschieden, weil wir sie immer in Gläsern mit Wasser am Fenster stehen hatten, und jedes Mal, wenn sie zu sprießen begannen, fand ich das so magisch und finde es immer noch!

Avocadopflanze bei Taltal Levi zuhause

Mit dieser Geschichte im Kopf begann ich mit den ersten Skizzen. Ich habe einige Storyboards angefertigt, aber mich letztendlich grösstenteils an einem einzigen orientiert. So begann ich, die Personen und Gegenstände zu platzieren, um mir die verschiedenen Szenen vorzustellen und zu überlegen, wie ich sie aufteilen wollte. Danach habe ich einige ausgearbeitete Skizzen angefertigt. Auf diese Weise hatte ich bereits einen Plan für die Reihenfolge der Szenen, die Positionen und auch den Maßstab. Einige Illustrationen wollte ich richtig groß aufziehen, andere waren eher klein wie eine Vignette. Auf diese Weise konnte ich genau sehen, wie ich die begrenzte Anzahl von Seiten ausfüllen wollte.

Du hattest also den gesamten Aufbau des Buches abgeschlossen, bevor du dich für eine Technik entschieden hast?

Ja, ich hatte zuerst diese ausgearbeiteten Skizzen. Aber am Ende habe ich sie in der gleichen Woche gemacht, in der ich auch verschiedene Techniken ausprobierte. Bei diesem Buch war es am Anfang wirklich schwierig, weil ich ursprünglich dachte, dass ich alles digital am Tablet machen wollte. Ich hatte diese Phase, in der ich experimentierte und versuchte, an den Punkt zu gelangen, an dem ich mit dem, was ich machte, zufrieden war. Aber es hat nicht funktioniert, so dass wir die Veröffentlichung des Buches schließlich verschoben haben. Das war wirklich gut, weil es mich fokussiert und zu dem zurückgeführt hat, was ich gerne mache und was mir auch in anderen Büchern gefällt. Ich habe viele Inspirationen gesammelt und bin dann zu Aquarell und Gouache zurückgekehrt, vor allem zu einer Art Trockengouache. Zuerst habe ich kleine Farbtests gemacht, um zu sehen, ob ich die richtigen Töne hinbekomme. Ich hatte auch eine Avocado auf meinem Tisch, die mir als Farbreferenz diente.

Taltal Levis Arbeitstisch mit Avocado

Wie fängt deine Farbpalette die Essenz der Geschichte ein?

Um die sommerliche, mediterrane Atmosphäre zu unterstreichen, habe ich eine erdige und warme Farbpalette gewählt. Außerdem habe ich mir Avocados angeschaut und versucht, ihre verschiedenen Grün- und Brauntöne zu erreichen. Und dann hatte ich diesen Moment, in dem mir klar wurde, dass ich eine Art Neongrün haben wollte, und ich mochte die Farbkombination, die ich ausprobierte. Vor allem die Farbe des Kerns war mir sehr wichtig, denn sie hat einen sehr charakteristischen, tief rotbraunen Farbton, den ich liebe, und so hat es eine Weile gedauert, bis ich die richtige Farbkombination gefunden hatte. Danach wusste ich, wie ich bei der Farbauswahl vorgehen musste.

Und wie ging es weiter?

Nachdem ich die Skizzen von Hand angefertigt hatte und sie nicht so perfekt waren, wie ich sie haben wollte, habe ich sie eingescannt, auf mein iPad übertragen und die Umrisse digital mit dunklen und dickeren Linien nachgezeichnet. Danach druckte ich sie erneut aus und klebte sie auf eine Platte, welche von unten leuchtet, so dass die dunklen Linien durchscheinen, wenn man das endgültige Papier darauf legt. Dann habe ich angefangen, die Farben einzufüllen.

Ich begann jeweils mit Ellies Shirt und trocknete es mit einem Haartrockner, um den Prozess zu beschleunigen. Dann machte ich mit einem Teil weiter, der noch trocken war, wie ihr Haar oder ihr Gesicht. Ihr Hautton ist die gleiche Farbe wie der Avocadokern, nur weniger konzentriert. Mit dieser Technik kann ich so arbeiten, wie es sich für mich richtig anfühlt und bin nicht durch Linien eingeschränkt. Ich mag es auch, wenn sich manchmal zwei Farben miteinander vermischen und etwas „Falsches“ geschieht, was sich dann aber als guter Zufall entpuppt.

Mit der Methode, die ich in Bravo, Avocado! verwendet habe, wollte ich die Essenz des Sommers einfangen. Indem ich Gouache, Aquarell und Ecoline verwendete, konnte ich den Fluss und die Unschärfe erzeugen, die ich suchte. Außerdem wollte ich, dass die Figuren im Buch runder und organischer aussehen, also eine Parallele zwischen ihnen und den Avocados ziehen. 

Welche Vorteile hatte die Umstellung deiner Technik?

Ich habe so viel gelernt, als ich von den digitalen Illustrationen zurück zu den handgefertigten wechselte. Mir ist klar geworden, dass ich mit meiner Hand so viel mehr ausdrücken kann, wenn ich auf Papier zeichne. Bravo, Avocado! ist selbst eine so organische Geschichte, dass es auch viel organischer war, sie von Hand zu zeichnen. Ich habe auch Farbstifte verwendet, um die Schattierungen, einige Umrisse und andere kleine Details hinzuzufügen. Dafür habe ich Farben gewählt, die den verwendeten Aquarellfarben sehr ähnlich sind, damit es nicht zu sichtbar wird.

Hast du die Illustrationen in der gleichen Reihenfolge gemalt, wie sie im Buch zu sehen sind?

Es war ein bisschen ein Mix. Aber ich fange immer mit der ersten Seite an, weil ich dann das Gefühl für das Buch bekomme. Danach gehe ich zu den Seiten über, die ich für sehr wichtig halte, um die visuelle Sprache des gesamten Buches zu verstehen. Und dann mache ich die Bilder, die eher nebenbei laufen.

Ellie erzählt von der Magie, die in ihrer Avocado steckt

Mit diesem Bild habe ich versucht, die Essenz von Ellies Charakter einzufangen. Ich weiß zum Beispiel, dass sie Saxophon spielt, also musste es in ihrer Vorstellung von dem, was aus dem Avocadokern kommt, ein Saxophon geben. Sie hat auch eine Schwäche für Narwale – sie hat sogar ein Poster von ihnen in ihrem Zimmer, das später zu sehen ist – also musste das auch vorkommen. Es ging darum, sich für die Dinge zu entscheiden, die sie liebt und die sie daher repräsentieren.

Hast du eine Lieblingsillustration im Buch?

Ich mag die Illustration, in der Ellie gegen den Hocker tritt und der Avocadokern durch den Raum fliegt. Aber ich mag auch die Atmosphäre des Bildes, das Ellie vor ihrem Haus zeigt, wie sie von der Schule nach Hause eilt, weil es mich an das Haus erinnert, in dem ich aufgewachsen bin. Die ganze Geschichte ist für mich sehr persönlich, da sie von meiner Kindheit in Israel inspiriert wurde. So sind zum Beispiel die Landschaft und die Gebäude von dem Ort inspiriert, an dem mein Vater derzeit in Galiläa lebt, mit schönen Steinhäusern aus der Zeit um 1900 und vielen Obstbäumen wie Palmen, Granatäpfeln und Olivenbäumen.

Etwas anderes, das durch meine eigenen Erfahrungen als Kind in Galiläa inspiriert wurde, ist, dass Ellie, sobald sie im Haus ist, sofort barfuß ist. Ich selbst erinnere mich daran, dass ich als Kind immer barfuß war, weil es die ganze Zeit so heiß war, dass man die Schuhe einfach so schnell wie möglich ausziehen wollte. Ellie hat also eigentlich nie Schuhe an, wenn sie zu Hause ist.

Würdest du sagen, dass Ellie inspiriert ist von dir als Kind?

Nicht so sehr. Sie ist viel temperamentvoller als ich – ich hätte zum Beispiel nie gegen eine Avocado getreten. Vielleicht ist sie wie das Kind, das ich gerne gewesen wäre, oder wie die Kinder, die ich bewundere. Aber Ellie ist auch von meinen Nichten inspiriert, denn eine von ihnen heißt tatsächlich Ellie. Und ihr Gesicht habe ich der anderen nachempfunden. Meine Ellie ist also wie eine Mischung aus den beiden.

Aber ich erinnere mich auch, dass ich als Kind manchmal unbedingt erwachsen werden wollte, damit ich selbst die Regeln aufstellen konnte, z. B. ins Bett gehen, wann ich wollte, stundenlang Zeichentrickfilme schauen und nach Herzenslust Coca-Cola trinken. Aber gleichzeitig erinnere ich mich daran, dass ich Erwachsene ansah und dachte, dass ich auch nicht erwachsen werden und mich in einen von ihnen verwandeln wollte, weil sie mir so ernst und ohne diese kindliche Leichtigkeit erschienen. Das wird auch im Buch angedeutet: Man sieht, wie Ellie die Magie und die sorglosen Tage vergisst, als sie älter wird, und erst später, als sie selbst ein Kind hat, wieder darauf zurückgreifen kann.

Ich möchte wieder wie ein Kind zeichnen.

Taltal Levi

Hast du Easter Eggs im Buch versteckt?

Tove Jansson – die Schöpferin der Mumin-Geschichten – ist eine große Inspiration für mich, und deshalb sieht man Ellie in diesem Buch gleich zweimal ein Mumin-Buch lesen. Außerdem hat Ellie einen kleinen Hahn dabei, als sie ein Kind ist. Das liegt daran, dass ich als Kind einen ähnlichen Hahn als Spielzeug hatte. Und auf einer Illustration ist auch die schwarze Katze aus Ein Fingerhut voll Mut zu sehen.

An deinen Atelier-Wänden hängen Illustrationen von Isabelle Arsenault, Tove Jansson und Jean de Brunhoff. Wie beeinflussen deine Vorbilder deine kreative Arbeit? 

Ich umgebe mich gerne und ständig mit Illustrationen. Ich hänge sie an meine Wände und besitze auch viele Bilderbücher zur Inspiration. Immer wenn ich mir etwas ansehen möchte, sind sie da – und sie machen mich glücklich. Ich bin ein sehr visueller Mensch, deshalb muss mein Atelier so inspirierend aussehen, dass ich mich hinsetzen und selbst etwas machen möchte. Ich ändere auch oft, was an meinen Wänden hängt, damit ich mich neu inspirieren lassen kann.

Das hilft mir auch, wenn ich Schwierigkeiten habe. Ich frage mich dann immer: „Was würden sie tun?“ Das ist wirklich schön, denn es fühlt sich fast so an, als könnte ich mit ihnen reden. Wie Tove Jansson – sie hat sich nicht um die Meinungen von anderen gekümmert; sie hat einfach getan, was sie wollte. Ich versuche also, aus meiner Komfortzone auszubrechen, weil ich mich weiterentwickeln und etwas machen möchte, das mich und auch andere Leute begeistert. So sehe ich auch meine Vorbilder. Sie bleiben sich immer selbst treu, aber sie entwickeln ihre Illustrationen auch von Projekt zu Projekt immer weiter.

Gleichzeitig möchte ich aber auch wieder so zeichnen, wie ich es als Kind getan habe, als ich nur zum Spaß zeichnete und nicht darüber nachdachte, was andere darüber denken könnten. Ich habe es nur für mich getan, aber gleichzeitig war es ein sehr ehrlicher Impuls, etwas zu erschaffen. Kinderzeichnungen mag ich am liebsten, also möchte ich einfach wieder wie ein Kind zeichnen.

Was tust du, wenn du dich in einer kreativen Blockade befindest? Hast du bestimmte Bewältigungstechniken?

Ich glaube, mir hilft es am meisten, wenn ich etwas völlig anderes mache. Und es ist auch wichtig, hoffnungsvoll zu sein. Die Entstehung eines Bilderbuchs ist ein Prozess, und ich weiß, dass ich irgendwann ans Ziel kommen werde. Eine Blockade ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg. Und wenn es diesen Schritt nicht gegeben hätte, hätte ich letztendlich das Ziel nicht so erreicht, wie ich es getan habe. Ich sage mir, dass es in Ordnung ist und dass morgen ein neuer Tag ist. Ich musste lernen, wie man das macht, aber jetzt habe ich es als Teil des Prozesses akzeptiert.

Und wie viele Avocados hast du während der Arbeit an diesem Buch gezeichnet?

Ach, ich weiß nicht… Zählen wir mal!

Danke für den schönen Besuch!

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