»Mut bedeutet, zu dem zu stehen, was man liebt«

Die Illustratorin Wiebke Rauers und der Autor Kai Lüftner haben ihren kreativen Fluss fürs gemeinsame Kinderbuchmachen gefunden. Bekannt wurden sie mit dem Buch »Furzipups, der Knatterdrache«. Jetzt hat das Duo »Marie Käferchen« geschaffen. Marie ist kein so braves Marienkäferchen, denn ihr Herz schlägt für den Rock’n’Roll. Sie macht lauthals ihre Musik, singt und schrammt so laut, wie Stimme und E-Gitarre können, auch wenn sie damit erst aneckt. Doch am Ende rockt die ganze Wiese mit Marie. Julia Ann Stüssi hat mit Wiebke und Kai über ihre Zusammenarbeit und über ihr neues Buch gesprochen.

Wo seid ihr gerade? 

Kai: Ich bin auf der dänischen Insel Bornholm, wir sind vor zweieinhalb Jahren aus Berlin hierher gezogen. Und [blickt um sich] neu habe ich die obere Etage mit meinem Arbeitsbereich in Beschlag genommen. Es ist ganz gemütlich … ausserdem habe ich hier ein besseres Netz als fünfzehn Jahre lang in Berlin. 

Wiebke: In meinem Wohnzimmer in Berlin – mein Partner und ich haben schon immer zuhause gearbeitet. Unser mini-kleines Schlauchzimmer, das früher unser Studio war, hat jetzt unsere Tochter bekommen und wir sind ins Wohnzimmer gezogen. Mein Partner ist direkt neben mir, die Schreibtische stehen nebeneinander, beide mit Kopfhörer auf, keiner hört die Klingel. 

Was braucht ihr zum Arbeiten?

Wiebke: Cintiq, dieses große Zeichentablet, meinen Rechner und Musik. Ohne Musik geht nichts. 

Kai: Ich hab auch gerne Kopfhörer auf und höre Musik, aber ich kann überhaupt nicht leiden, wenn jemand neben mir sitzt. Das Wichtigste für mich ist die Ruhe, deshalb genieße ich es hier oben sehr. Ich habe einen phantastischen Blick [dreht die Kamera auf eine idyllische Landschaft] und ich sehe immer, wenn jemand kommt – das ist so kontroletti-mäßig total gut. Die Anonymität und diese Fokussierung auf mich selbst hier ist Gold wert, und hat meine Arbeitsqualität, aber auch die Effizienz dramatisch erhöht.

Wiebke: Bei mir ist es ähnlich. Ich war früher fest angestellt und habe in einem Großraumbüro gesessen, ganz weit hinten, und ich konnte alle anderen beobachten. Jedes Mal, wenn jemand vorbeiging, habe ich unwillkürlich aufgeblickt. Und jedes Mal bist du halt wieder raus aus dem Gedanken, den du gerade gefasst hast, das war für mich immer störend. Hier guck ich einfach gegen die Wand, wenn überhaupt. Eigentlich werde ich überhaupt nicht mehr unterbrochen, wenn ich arbeite. 

Welche Musik hört ihr beim Arbeiten? 

Wiebke: Rock, oder Hardrock, manchmal auch Metal. Es kommt darauf an, was ich gerade mache. Auf jeden Fall nicht das, was die Leute sich vorstellen, was ich hören würde, während ich Kinderbücher illustriere [lacht]. 

Ich höre beim Arbeiten nicht die Musik,

die sich die Leute vorstellen. […]

Ich brauche etwas, was mich antreibt.

Wiebke Rauers

Was würden sich die Leute denn vorstellen? 

Kai: Shakira! 

Wiebke: Ja, vielleicht! Sicher etwas Beschwingtes, was gute Laune bringt. Aber das brauche ich überhaupt nicht. Ich brauche etwas, das mich antreibt. Ich habe das Gefühl, im Schmerz kann man kreativer sein als wenn es einem gut geht. Ich weiss nicht, ob ich noch Zeichnen würde, wenn ich nach Hawaii auswandern, die ganze Zeit am Strand hängen und surfen würde. [Kai grinst] Hingegen wenn es viel regnet, dann ist es die Zeit, sich an den Schreibtisch zu setzen und zu arbeiten. 

Kai: Darum beneide ich Wiebke. Als Illustratorin kann sie content-lastige Musik hören. Wir haben – auch über »Marie Käferchen« – festgestellt, dass wir ganz schön viel Überschneidungen haben, was den Musikgeschmack angeht. Wir schicken uns permanent Entdeckungen. Und obwohl ich total gerne harte Musik höre, so hart wie möglich, geht das beim Arbeiten überhaupt nicht. Ich kann auch keine Texte hören, das fehlt mir sehr. Jemand, der mit dem Bild arbeitet, kann wohl sogar Podcasts hören. Ich hab so Alpha-Wellen für mich entdeckt [grinst], so Meditations-Mucke, also Instrumental-Alpha-Wellen. Das ist etwas zwischen Yoga und Meditation, einfach so Atmo, um die Außenwelt und die Geräusche wegzufiltern.

Wie entstand die Idee zu Marie Käferchen? 

Wiebke: Ich kann mich noch dran erinnern, dass du, Kai, mir eine Nachricht geschickt hast. Dein Sohn hätte einen toten Marienkäfer gefunden, und du hättest das bedauert. Aber der Kleine sagte nur: »Aber Papa, das ist doch Marie, das ist doch Marie Käferchen.« Und ich dachte: Oh mein Gott. 

Für meine Inspiration höre ich gut hin,

wenn die Kinder reden.

Kai Lüftner

Kai: Ja, das war genau so. Es war schon bei vielen meiner Bücher so, dass ich für meine Inspiration den Kindern auf die Schnauze geschaut, gut hingehört habe, wenn die reden. Zum Beispiel habe ich ein Buch über den Tod geschrieben, das davon inspiriert war, wie mein Sohn solche Dinge sieht.  – »Papa, guck mal, die Ratte da hinten ist tot, aber die braucht ihren Körper nicht mehr.« Ich fand diesen Gedanken so irre, so direkt aus der Kindersicht. Wie bei der Entstehung von Marie: Die Idee, dass ein Marienkäferchen Marie Käferchen heißt. Ich habe das natürlich sofort gegoogelt, das gab es noch nicht. Nachdem ich die Idee an Wiebke geschickt hatte, hat sie innerhalb von einer halben Stunde Marie zurückgeschickt! Also eine Illustration von diesem Käferchen, schon mit Punkrock-Stil und dem David-Bowie-Blitz. 

Es ist gleichzeitig Fluch und Segen mit Wiebke und mir, dass wir total krass Ping Pong spielen. Das geht manchmal so schnell, dass es lawinenartig passiert, sowohl bei der Arbeit an den einzelnen Büchern, als auch bei der Vielzahl der Titel, die da so aus uns herauspollern. Das habe ich vorher noch nie so erlebt, obwohl ich seit zehn Jahren schreibe. Ich gucke zwar sehr ungefiltert auf meine Umgebung, und nehme alles wahr, aber der Impuls von Wiebkes Kreativität, die eine Idee dann ganz klar in einem Bild fixiert, das fehlt mir.  

Wie lief die weitere Zusammenarbeit ab? 

Wiebke: Bei Marie Käferchen verging dann nochmals eine halbe Stunde oder vielleicht ein halber Tag. Dann hat Kai mir die Marie aufs Band gesprochen, den ganzen Buchtext vorgelesen. Ich dachte mir: Alter, das ist krass. Und ich hatte sofort das Bild von Marie Käferchen vor mir, mit der Jeansjacke und den Patches drauf. Ich habe mich gleich hingesetzt und sie gezeichnet. Daraus wurde das Bild, das auch auf dem Cover benutzt wurde. Dazu kamen ein paar Referenzbilder mit Marie in diesem Glamrock-Universum. Damit sind wir zu euch [zum NordSüd Verlag] gekommen. Am Text wurde auch kaum mehr etwas geändert, oder?

Unsere Zusammenarbeit hat eine Geschwindigkeit und eine Intensität,

das kann man nicht inszenieren.

Kai Lüftner

Kai: Es gibt exakt eine einzige Datei von »Marie Käferchen«. Es gibt keine Notizen, nichts, einfach ein Ding. Ich glaube, die Lektorin Andrea Naasan hat dann etwa zwei Worte geändert. Unsere Zusammenarbeit hat ‘ne Effizienz, eine Geschwindigkeit und eine Intensität … Das kann man auch mit dem besten Handwerk und der krassesten Finanzierung nicht inszenieren. Das war auch nicht geplant. Seit ich mit Wiebke so arbeite, macht es für mich das Medium Kinderbuch auch so spannend. 

Kai, du machst ganz viele Dinge auf verschiedenen Kanälen. Erzähl doch mal davon. Welchen Stellenwert hat für dich das Kinderbuch-Texten? 

Kai: Zusammengefasst passt der Begriff »Kreativitäter«. Ich mag alles, was mit dem Produzieren von Content zu tun hat. Ich liebe das Schreiben für die verschiedenen Medien. Ich mach Hörbuch, ich mach Musik, ich mach eigene Formate. Ich war jahrelang Auftragstexter für verschiedene Comedians, ich hab’ in der Werbebranche gearbeitet. Das war alles toll und hat mir Spaß gemacht. Ich war immer sehr demütig und dankbar, dass ich das konnte. Dann dacht ich irgendwann, dass ich nicht mehr für andere schreiben will. Und ich habe halt schon immer Bilder- oder Kinderbuch geschrieben. 

Mut war für mich lange, nicht der Erste zu sein, der wegrennt. Bis ich begriffen hab, dass Mut bedeutet, zu dem zu stehen, was man liebt.

Kai Lüftner

Meine Definition von Mut war über viele Jahre, nicht der Erste zu sein, der wegrennt, wenn es Stress gibt. Bis ich begriffen hab, dass Mut eigentlich bedeutet, zu dem zu stehen, was man liebt. Und das war lustigerweise für diese Zielgruppe [Kinder] zu schreiben. 

Es schließt sich bei Marie ein Kreis für mich – Marie die Bündelung von meiner Vergangenheit, nämlich diese Punkrock-Nummer und die Zielgruppe Kind. Weil für mich, als jemand, der jahrelang auf der Bühne war, und als Musiker oder als Vorleser live performt hat, ist ganz klar, dass Kinder genauso unzensiert sind wie Punks. Die schmeißen vielleicht keine Bierflaschen oder rülpsen den ganzen Tag, aber sie zeigen dir so unmittelbar wie kein anderes Publikum, was sie denken. Einfach total pur. Mit Wiebke ist das etwas stiefmütterlich behandelte Bilderbuch, was ich so gar nicht auf der Uhr hatte – ich wollte immer so Fließtexte und so anspruchsvoll und ein bisschen literarisch schreiben – das Kinderbuch, ist für mich das Medium geworden. Es ist für mich als Texter oder Autor letztlich ein längerer Song. 

Das Kinderbuch ist für mich als Texter eigentlich ein längerer Song.

Kai Lüftner

Und dann kommt jemand dazu und gibt ihm die zweite Dimension, oder sogar die dritte – ja ich mein’, toller geht es nicht.  

Ohne der Wiebke ständig Honig ums Maul zu schmieren muss ich nochmals sagen: Das wäre ohne sie so nicht passiert. Ich hätte wieder irgendeine Biege genommen, das ist für mich üblich. Aber jetzt will ich Bilderbücher machen, am liebsten den ganzen Tag. [Beide lachen]

Wiebke, du hast in einem Animationsstudio gearbeitet, beeinflusst das deine Arbeit? 

Wiebke: Die Animation beeinflusst mich auf jeden Fall stark. Ich habe bei Hahn Film mein Praktikum fürs Diplom gemacht – das ist der Typ, der Benjamin Blümchen erfunden hat. Der ist schon bekannt, aber es war zu der Zeit noch ein relativ kleines Studio. Ich konnte unfassbar guten Charakter-Designern und Illustratoren einfach über die Schulter gucken. Ich habe während meines Praktikums so viel gelernt, wie im ganzen Studium nicht. Das hat mich total geprägt. Es macht einen großen Unterschied, wie man an die Arbeit geht, ob man was für das Bewegtbild macht oder für Print. Bei mir ist das eine komische Mischung geworden. Zwischendurch mache ich manchmal Charakterdesign für Animationsfilm, aber die Art, wie ich zeichne, ist sehr illustrativ. Und umgekehrt: Wenn ich ein neues Buchprojekt starte, dann fange ich mit den Charakteren an. Ich habe andere Ansprüche an sie als jemand, der die Abläufe in der Animationsbranche nicht kennt. Es gibt eine Art innere Liste, die bei mir immer runtergerattert wird. Zum Beispiel die Proportion. Wie die Silhouette des Charakters ist. Dass der Kopf nicht so riesengroß ist mit ganz kleinen Füßen, sonst wird er umfallen … Es gibt ein paar Dinge, die habe ich verinnerlicht, wenn ich anfange zu zeichnen. 

Ich habe durch meinen Hintergrund in der Animationsbranche andere Ansprüche

an die Characters.

Wiebke Rauers

Was bedeutet dir das Kinderbuch? Ist es dein Medium?

Wiebke: Ja, voll. Ich wusste schon als Erstklässlerin, dass ich mal Kinderbücher machen wollte. Ich konnte schon immer gut Malen und Zeichnen, aber ich wurde immer ausgelacht von allen. Die Lehrer haben mich belächelt: Da kann man kein Geld verdienen. Das ist kein Beruf, von dem man leben kann. Ich muss sagen, das hat mich noch darin bestärkt, dass ich das wirklich machen wollte.

Ich wusste schon als Erstklässlerin, dass ich Kinderbücher machen wollte, aber wurde belächelt von meinen Lehrern. Das hat mich darin bestärkt, dass ich das wirklich machen wollte.

Wiebke Rauers

Ich habe dann eine Ausbildung gemacht, die breit gefächert war, aber ich wusste schon damals, dass ich eigentlich Illustration studieren wollte. Ich bewarb mich in Hamburg, wurde auch genommen, aber ich war ehrlich gesagt zu faul, um nach Hamburg zu gehen. Ich lebte lieber noch ein bisschen bei meinen Eltern. Dann studierte ich Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Illustration. Das Angebot für Illustration war total mau. Aber ich habe bei einem Fotographie-Professor diese Fotogramme kennen gelernt, die ich jetzt bei »Marie Käferchen« eingebaut habe. 

Wie funktionieren Fotogramme und wie verwendest du sie in »Marie Käferchen« ? 

Wiebke: Man nimmt unbelichtetes Fotopapier und legt alles, was man finden kann, darauf, dann wird es von oben belichtet. Da, wo das Licht nicht hinkommt, ist danach eine unbelichtete Stelle. Für Marie habe ich ganz viel aus dem Garten meiner Eltern genommen, viele Pflanzenelemente. Danach scannte ich alles ein in Photoshop und schnitt es aus. 

Ich hatte in den Skizzen zu »Marie Käferchen« schon angelegt, dass da etwas »Echtes« drin sein sollte, damit das Gefühl entsteht, man sei auf einer Wiese. Es sollte eine dritte Ebene drin haben, nicht nur Vorder- und Hintergrund, sondern noch was dazu. Die Fotogramme, die im Buch schwarz sind, habe ich nachbearbeitet, also darüber gemalt, damit es »echt« aussieht. So entsteht Plastizität. Das ist eine Technik, die ich hier zum ersten Mal verwende. Ich finde, sie passt zu diesem rockigen Thema. In den Illustrationen sind ja auch Zeitungssschnipsel drin, die ich eingescannt und in den Hintergrund eingearbeitet habe. Das passt zum Rock. 

Was macht ein gutes Kinderbuch aus?  

Wiebke: Ein gutes Kinderbuch muss in meinen Augen nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern dazu bringen, es gerne nochmals von vorne zu lesen. Man liest das ja zwanzig Mal am Stück …

Kai: Ich finde auch, dass es die Eltern abholen muss. Das klingt banal, fehlt aber oft. Ich guck auf den deutschsprachigen Buchmarkt und finde, dass es oft »pädagogisch wertvoll«, »politisch korrekt« und in so kleinen Zielgruppen gedacht ist. Im skandinavischen Bereich ist es komplett anders. Leute wie Halfdan Rasmussen oder Sven Nordqvist, das sind Punker. Oder auch im Englischen Buchmarkt. Dieser David Williams von Little Britain, der Kinderbücher wie »Gangsta-Oma« schreibt, das sind Leute, die haben alle einen anderen Background. Die kommen aus anderen Universen und bringen das mit ins Kinderbuch. Dann ist das Kinderbuch wieder das, was es meiner Meinung nach früher mal gewesen ist, nämlich Familienunterhaltung. Entertainment, das alle abholt. 

Ein gutes Kinderbuch ist Familienunterhaltung. Entertainment, das alle abholt.

Kai Lüftner

Ich habe in der deutschsprachigen Kinderbuchbranche Diskussionen geführt darüber, ob man Geschichten über Scheidungskinder erzählen oder ob man in Kinderkrimis oder Jugendkrimis wirklich »Leiche« sagen darf. Und oft muss das dann abstrahiert werden. Aber das ist nicht meine Erlebniswelt. Meine Kinder interessiert sowas und ich finde, das gehört dazu. Eine Ferienlagerreise ist immer alles: Sie ist Liebeskummer und Heimweh, aber auch das erste Verknalltsein und die Party auf dem Doppelstockbett. Darum darf das im Kinderbuch meiner Meinung nach auch so zusammen funktionieren.

In der Filmwelt ist das mit Pixar ja längst passiert – das ist auch immer wieder ein Gesprächsthema mit Wiebke. Es ist vielleicht nicht immer so, dass in einem FSK-0 Film sich einem Kind alles unmittelbar erschließt, aber das ist auch nicht so wichtig. Ich würde das gerne mit einem Rodelberg vergleichen. Wenn man als Kind denkt, die Rodelbahn am Gummiberg ist der ultimative Killer. Dann kommt man zwanzig Jahre später wieder hin und sieht, sie hat ein seichtes Gefälle von drei Prozent und geht eigentlich nur zwanzig Meter. Das ist doch total schön, wenn man als Kind eine Überforderung empfindet, die sich im Rückblick, im Lauf der Zeit, relativiert.

Und ich finde, nichts ist schlimmer, als wenn die Eltern keinen Bock haben, vorzulesen. Dann ist alles obsolet, was man eigentlich mit Literatur will. 

Ich mag Kinderbücher, weil jedes ein Mini-Universum ist. Optisch und inhaltlich.

Wiebke Rauers

Wiebke: Ich mag auch Kinderbücher total, weil jedes ein Mini-Universum ist. Es ist durch die knappe Seitenzahl eine relativ kurze Geschichte, aber von vorne bis hinten hundert Prozent bebildert. Da lässt sich ein superschönes Universum schaffen. Nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich. Wenn es von beiden Seiten gut gemacht ist, dann kann das eine coole Sache sein. 

Kai: Ja. Und da haben wir uns auch sehr gefreut, dass der NordSüd Verlag »Marie Käferchen« nicht nur mitgetragen hat, sondern auch selbst Dinge miteingebracht hat. Es gibt viele Ebenen im Buch, die sich den Kindern vielleicht nicht erschließen werden, aber den Eltern schon. Zum Beispiel der David-Bowie-Blitz oder das Format des Buches, das viele an eine LP erinnern wird. Oder die Nieten und so. Welches Kind kann heute noch was mit Nieten anfangen? Oder eine Playlist, die ein Universum hinter dem Print-Medium bietet. Das ist das, was dieses Buch toll und rund macht. 

Viele Ebenen in unserem Buch erschließen sich vielleicht nur den Eltern. Zum Beispiel der David-Bowie-Blitz oder das Format des Buches,

das an eine LP erinnert.

Kai Lüftner

Wiebke, welche Künstler:innen schätzt du besonders? 

Die meisten sind aus der Characterdesign-Branche, von Pixar-Filmen. Zum Beispiel Carter Goodrich, Nico Marlet, Uli Meyer. Das sind einfach unfassbar gute Charakterdesigner, unglaublich. 

Ist euch Maries Erfahrung vertraut? Trefft auch ihr manchmal mit eurer Leidenschaft auf Widerstand oder Ablehnung? 

Kai [lacht verschmitzt]: Genau das ist im Gespräch zumindest bei Wiebke schon zutage gekommen. Du, Wiebke, hast ja gesagt, dass du belächelt wurdest, als du in der ersten Klasse gemalt hast, und weil du wusstest, was du willst. Wie Marie standest du am Ende quasi alleine auf der Wiese, weil du dein Ding gemacht hast. Ich habe den Text Wiebke eigentlich »aufs Maul geschrieben«. Und dadurch, weil sie eben so schnell reagiert hat und diesen Charakter hinrockt, hat sie das mehr als bewiesen. Ich finde schon, dass es da für mich, in meiner Wahrnehmung von Wiebke, und auch in der von mir selbst, extreme Überschneidungen gibt. Übrigens noch eine Analogie: Marie hat vier Arme und kann darum Gitarre schneller spielen als jede andere. Wie Wiebke: die hat vier Hände, weil die so schnell malt.

Es ist ja nicht neu, über Outlaws zu schreiben oder über Figuren, die anders sind, aber an sich selbst glauben. Gerade im Kinderbuch. In unserem Fall spielen wir aber mit ziemlicher Fallhöhe: Es ist ein kleines Insekt und es kommt im Lederjacken-Nieten-Look und mit Rock’n’roll-Gitarre-Verstärker.  

Fühlst Du dich erkannt, Wiebke? 

Wiebke: Auf jeden Fall. Früher bin ich immer gegen eine Wand gerannt, sowohl in der Schulzeit, als auch früher in der Animationsbranche oder später in verschiedenen Verlagen. Es sind alle so kritisch wie es eigentlich die Kunden, die potentiellen Käufer, gar nicht sind. Man traut den Kunden vieles gar nicht zu, zum Beispiel das Interesse an bestimmter Kunst – dabei haben sie das durchaus. Ich habe seit einiger Zeit einen Instagram-Account. Wenn ich Sachen poste, die ich nur so für mich gezeichnet habe, dann kommt da sehr ehrliches Feedback von Leuten, die mich nicht kennen und die aus ganz vielen unterschiedlichen Kulturen stammen. Und es ist meistens positiv.

Kai: Ja, und du beschreibst ja auch oft, dass die Leute dich, Wiebke, gerne unterschätzen. Die sehen eine hübsche Rothaarige, die da ein bisschen malt und eigentlich gebucht wird für süße kleine Figürchen. Aber sie sehen gar nicht den Punkrock dahinter. Bei mir ist es genau andersrum: Bei mir sehen die Leute einen hundert Kilo tätowierten Glatzkopf, der nicht zu mehr in der Lage ist, als die Abseitsregel zu erklären und im besten Fall zu rülpsen und zu furzen und sehen nicht, dass der auch noch eine andere Ecke hat. In Marie Käferchen arbeiten wir mit dieser Fallhöhe oder dieser Deepness. Ich sehe in Wiebke definitiv mehr als eine, die man noch einen ganz süßen Character mit ganz süßem Augenaufschlag machen lässt. Das wäre total verschenkt. Das wäre ein Ferrari, der im Hof hin und her fährt. 

Bei mir sieht man den hundert Kilo tätowierten Glatzkopf, der nicht zu mehr in der Lage ist, als eine Abseitsregel zu erklären.

Kai Lüftner

Dann fehlt eigentlich der total harte, tätowierte hundert Kilo Käfer, der …

Kai: … der Ballett tanzt, genau! Wir sind da ja längst weiter. Um eben bei diesen hundert Kilo zu bleiben – vor allem der Hirschkäferbassist aus »Marie Käferchen«, der muss eigentlich eine eigene Story kriegen …

Wiebke: Übrigens, als ich am Line up saß – so nennt man das in der Animation, wenn man alle Characters nebeneinander setzt – da dachte ich daran, welche Musiker noch rein sollten. Ich begann, am Hirschkäfer zu arbeiten, und er war am Anfang total harmlos. Da merkte ich, dass der irgendwie so nicht passt. Dann habe ich ihn so gemacht, wie er heute im Buch ist. Ich weiss noch wie ich dachte: Auf keinen Fall wird NordSüd das durchwinken! Auf keinen Fall. Ich war mir so sicher, dass ihr den zensieren würdet. Nee, der ist zu krass, die Nieten müssen ab und zu schwarz und zu metal … aber ihr fandet ihn total super. Das war der endgültige Moment, wo ich gesagt hab: Das ist super mit euch. Ich fühlte mich aufgehoben.

Ihr habt gemeinsam drei Bücher veröffentlicht. Wie viele Projekte sind noch am köcheln?

Kai: Fünf?

Wiebke: Mindestens. Schwierig zu sagen. Wenn wir auch Skizzen, Ideen und Mini-Universen einbeziehen, dann sind es … 

Kai: … dann sind es zwanzig [beide lachen]. Ja, es sind mindestens zwanzig, über die wir immer wieder reden, Ideen hin- und herschieben und miteinander austauschen. Aber fixiert sind so fünf, sechs für die nächsten Jahre. Im Gespräch sind nochmals fünf, sechs. Das ist fast ein bisschen spooky. Für Bücher arbeite ich momentan nur noch mit Wiebke. 

Wiebke: Ja genau, ich arbeite auch nur mit Kai. 

Mein Primärtool ist die Poesie,

ich liebe Lyrik.

Kai Lüftner

Kai, warum hast du die Reimform für »Marie Käferchen« gewählt?

Kai: Ich bin total gerne Musiker, aber ich kann kein Instrument spielen, nur ein ein bisschen Gitarre. Mein Primärtool ist die Poesie, ich liebe Lyrik. Das ist mein perfektes Medium. Es ist für mich ein Luxus, mich hinzusetzen und einen langen Song zu schreiben. Was ich bei »Marie Käferchen« gefühlt in zwei Stunden gemacht hab. Ich arbeite manchmal zwei, drei Tage durch, dann hab ich ein Projekt fertig. Ich liebe diese Darreichungen von Sprache.  Und ich liebe es, diese Darreichungen von Sprache an die Zielgruppe zu vermitteln, so nenn ich es jetzt mal ein bisschen platt. Ich finde, dass man da sehr wohl mit Berliner Kodderschnauze quatschen kann und nicht immer so intellektuell daherreden muss.

Es muss sich für mich nicht jedes Kinderbuch reimen, aber gerade in der Zusammenarbeit mit Wiebke liebe ich es, das so zu machen. Es ist dafür ein perfektes Medium, die zwölf, vierzehn, sechzehn Doppelseiten sind ein schönes Komprimat, ein kleines Filmchen, das man sich am Abend vorliest. Dadurch, dass Kinderbücher oft »einfach« sind, kann man mit der Poesie dem Genre noch etwas Level hinzugeben. Ein bisschen mehr »wat kann Sprache«.

Zur Zeit kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, mit jemand anderem als mit Wiebke gereimte Texte zu machen. Das würde ich einfach nicht machen, es würde mich momentan nicht reizen. Ich würde sie zumindest immer zuerst fragen, immer! [Wiebke lacht]. 

Ihr habt zum Buch eine Spotify-Liste gemacht. Was hat es damit auf sich?

Wiebke: Eigentlich war geplant, eine Marie-Käferchen-Playlist zu machen, um das Glamrock-Universum aufzuzeigen. Aber dann ist es doch eher eine Art Making-Of von meiner Seite geworden. Die Sachen, die ich beim Arbeiten gehört hab, die sind jetzt da drin. Es ist wirklich eine Marie-Käferchen-Playlist: Ich würde die Musik nicht anhören wollen, wenn ich einen Schmetterling für das nächste Buch illustriere. Das geht einfach nicht, das ist jetzt die Playlist für sie. Und wenn es einen zweiten Teil gibt, dann freu ich mich darauf, die wieder anzuhören beim Arbeiten [lacht].

Kai: Ja, es ist nicht nur ein Soundtrack, es ist die Mucke für das »Behind the scenes«. Ich habe bisher mit Glamrock gar nicht so viel an der Mütze gehabt, aber durch das Hören dessen, was Wiebke da in die Liste gepackt hat, etwas entdeckt, das total zu »Marie Käferchen« gepasst hat. 

Ich habe bei den Regengeräuschen immer den Käferbassisten gehört, wie er mit seinen Boots über den moosbewachsenen Stamm läuft.

Wiebke Rauers

Wiebke: Kai, du hattest mir ja diese Playlist von der skandinavischen Musik gegeben … eine Liste mit drei oder vier Songs, die ich während des ganzen Buches gehört habe. 

Kai: Ja, so norwegisch-schwedisch-finnische Folklore, aber modernisiert. Das ist durchaus sehr hartes Zeug. Aber eben skandinavisch. Mystisch, mit dieser Darkness. 

Wiebke: Da sind Regengeräusche drin. Ich weiss noch, als ich die Szene illustriert habe, in der die ganze Band über diese Brücke geht, habe ich bei diesem Regengestampfe immer den Käferbassisten gehört, wie er mit seinen Boots über diesen moosbewachsenen Stamm läuft. 

Kai: Davon wusste ich gar nichts. Das ist genau, was ich so liebe an dieser Zusammenarbeit. Es ist nämlich ganz egal, wie man als Autor eine Komplexität zu einer Figur oder einer Idee oder einem Setting aufgebaut hat. Denn dann kommt so eine Illustratorin wie Wiebke daher und hat zu einer Szene oder zu einem Bild, das sie aus dem Text macht, wiederum ihre eigene Story. Alter, das macht mich total happy! Das ist wirklich Next Level. Das ist die Ebene dahinter, die ich mir eben nicht ausdenken kann. Es macht mich total glücklich, dass sich so etwas ergeben kann. 

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