Auf den Kreidolf gekommen

Anna Lehninger ist nicht nur Projektmitarbeiterin in der Zentralbibliothek Zürich, sondern forscht auch zu Kinderbuchillustrationen und Kinderzeichnungen beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. Als Mitglied des Ernst-Kreidolf-Vereins verfasste sie das Nachwort zu Lorenz Paulis neuem Buch »Kreidolf reloaded«. Im Interview erzählt sie uns, was einen Künstler wie Ernst Kreidolf so interessant macht und ein Buch wie »Kreidolf reloaded« so besonders aus Sicht einer Kunsthistorikerin.

Anna Lehninger

Wie kam das Nachwort und die Zusammenarbeit zwischen dem Autor Lorenz Pauli und dem Ernst-Kreidolf-Verein zustande?

Lorenz Pauli kam Anfang 2022 mit seinem Projekt zu Bildern von Ernst Kreidolf auf uns zu. Wir waren sehr überrascht und haben die Idee natürlich aufgenommen, da wir gerne neue Seiten von Ernst Kreidolf zeigen. Er ist auch heute noch ein zeitgemässer Künstler und hat für die Bilderbuchillustration Wegweisendes geleistet.

So kam die Kooperation vom Verein mit dem NordSüd Verlag zustande, der auch die anderen Bücher von Ernst Kreidolf herausbringt. Dem Vorstand vom Ernst-Kreidolf-Verein war es in diesem Sinne auch ein Anliegen, das Nachwort zu diesem Buch zu verfassen, da wir es dem Publikum nicht einfach unkommentiert vorsetzen, sondern einen Kontext schaffen wollten. Wir möchten aufzeigen, wo Kreidolf eigentlich herkommt und wie diese Kooperation zustande kam – da wir davon ausgehen, dass heute mehr Leute einen Bezug zu Lorenz Pauli haben als zu Ernst Kreidolf. Diese Bild- und Wortwelt von Kreidolf ist auch in den anderen Werken von ihm vorhanden und wir als Verein möchten, dass dieses Nachwort neugierig macht und Leser:innen auch andere Werke von ihm anschauen und neue Seiten an ihm entdecken. 

Mein Anliegen ist nicht, Kreidolf überzuinterpretieren, sondern ihn aus dieser Niedlichkeitsecke […] herauszuholen.

Anna Lehninger

Wie bist du zu Ernst Kreidolf und seinen Werken gekommen?

Kreidolf habe ich erst entdeckt, als ich in die Schweiz gekommen bin. Ich habe mich viel mit Kinderbuchillustrationen und historischen Kinderzeichnungen beschäftigt. In den 1920er- und 1930er-Jahren ist mir aufgefallen, dass im Schulkontext und bei Wettbewerben vor allem sehr viele Motive von Kreidolf in Fantasie-Zeichnungen übernommen worden sind. Dann versank ich sehr schnell in der Kreidolf-Welt. Wenn man einmal damit anfängt und einen Zugang zu ihm findet, ist das wie ein unlösbares Band, das geknüpft wird (lacht).

Ein Auslöser waren aber auch die Kinderbriefe und Zeichnungen, die an Ernst Kreidolf adressiert waren und im Grunde als Fan-Post an ihn zu verstehen sind. Sie lagern in der Burgerbibliothek in Bern. Die Kinder haben ihm zum Teil als Klasse zum Geburtstag oder zu Ausstellungen gratuliert – das ist wirklich spannend zu lesen. Nach der Ausstellung »Ernst Kreidolf und die Tiere« 2013/14 wurde ich 2016 eingeladen, einen Vortrag zu halten und ja, ein Jahr später war ich im Vorstand vom Ernst-Kreidolf-Verein – so schnell kann es gehen. (lacht)

Kreidolf wie wir ihn kennen.

Was macht das Buch Kreidolf reloaded so besonders?

Die Illustrationen sind für die damalige Zeit durch die Fantastik seiner Bilder auch schon besonders gewesen. Gerade mit dieser Fantasie, den Elflein, Zwergen und vermenschlichten Pflanzen kann man diese Illustrationen auch wunderbar aus heutiger Sicht lesen.

Was Lorenz Pauli hier geschaffen hat, ist wie eine Art Neuinterpretation von Kreidolf. Ich hatte so viele Aha-Momente in Kreidolf reloaded und konnte völlig neue Seiten an ihm entdecken. Ich habe mich oft gefragt »Wie ist Lorenz Pauli denn darauf gekommen?« Und das ist eben das Lustige: Durch diese Gedichte schafft Pauli es, dass man die Bilder von Kreidolf ganz neu sieht. Er hat nicht einfach ein Werk von Kreidolf genommen und neu betextet, sondern er hat eklektisch einzelne Bilder aus verschiedenen Werken herausgesucht und Kreidolfs wunderbaren Bildwitz mit seinem eigenen Wortwitz verwoben. Pauli hat hier tiefgehend recherchiert und nicht nur das leicht Verfügbare zusammengtragen, sondern Bilder genommen, die man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht Kreidolf zuordnen würde.

Welches zum Beispiel?

Zum Beispiel dieses Bild, bei dem eine Frau mit einem Kind am Ufer sitzt und dem Boot nachblickt. Das ist aus heutiger Sicht kein typisches Kreidolfmotiv, aber ein wunderbar poetisches Bild, das Pauli in seinem Text ordentlich gegen den Strich bürstet.

Horizonterweiterung

In Kreidolf reloaded findet man als Leser:in Reime vor – findest du, Reime sind eigentlich noch »up to date«?

Gedichte mochte ich selbst schon als Kind – ihr Spiel mit dem Rhythmus der Sprache. Bestimmte Texte in Reimform lese ich auch gerne selber als Erwachsene wieder vor, da sie eine unglaublich vielseitige Textform sind. Je nach Autor:in funktionieren Gedichte auch wunderbar über die Zeiten hinweg. Mich hat es gerade bei Lorenz Pauli so gefreut, dass er sich für die Gedichtform entschieden hat, denn sie funktioniert hervorragend mit den Bildern zusammen.

Denkst du, dass Kreidolfs Illustrationen manchmal überinterpretiert werden?

Ich finde, man sollte noch viel mehr interpretieren. (lacht)

Zum Beispiel Kreidolfs Zeitgebundenheit: Man muss sich vor Augen führen, dass er den Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Ich denke, man müsste sich noch viel konkreter anschauen, was er alles in seinen Bildern rezipiert hat. Mein Anliegen ist nicht, das alles überzuinterpretieren, sondern ihn aus dieser »Niedlichkeitsecke«, in die er nicht hineingehört, herauszuholen und zu zeigen, wozu er sich in bestimmten Formen geäussert hat. Die Neujahrs- und Grusskarten zum Beispiel, die wir noch von ihm aus der Zeit des Ersten Weltkrieges haben, sind kleine Zeitzeugnisse, die sich nach Frieden sehnen. Und auch in den Bilderbüchern gibt es immer wieder solche Zeitbezüge.

Ausgehend von deiner Tätigkeit als Kunsthistorikerin – auf welche Aspekte in Kinder- und Jugendmedien achtest du besonders?

Sowohl bei historischen Bilderbüchern, mit denen ich mich berufsbedingt beschäftige, als auch bei dem aktuellen Bilderbuchschaffen gehe ich natürlich sehr stark vom visuellen Eindruck der Bilder aus. Aber ich achte auch auf die ganze Gestaltung und Materialität eines Buches. Ich möchte ein Buch als ganzes Erlebnis wahrnehmen und dazu gehören auch wie sich das Papier anfühlt, wie die Typografie aussieht oder das ganze Layout. Also im Grunde: Wie ist das alles gemacht? Das war das Schöne an Kreidolf reloaded, da konnten wir genau auf solche Aspekte eingehen. Zum Beispiel kein Glanzpapier zu verwenden, oder darauf zu achten, dass das Buch gut in der Hand liegt. In der ganzen Gestaltung des Buches steckt so viel Liebe und Blick für das Detail. Für mich ist essentiell bei einem Buch, dass ich sehe, dass sich jemand dazu Gedanken gemacht hat. 

Was man als Kind gelesen hat, 

das prägt einen ein Leben lang.

Und wie haben sich in deinen Augen in den letzten 10 bis 20 Jahren die Kinderbuchillustrationen verändert?

Früher wurde die Kinderbuchillustration eher belächelt und nicht als Kunst verstanden. Manche Illustrator:innen sind auch richtiggehend hinter ihren erfolgreichen Werken »verschwunden«. Zum Teil haben sich Künstler:innen auch unverstanden gefühlt, wenn die Kinderbuchillustrationen mehr geschätzt wurden als ihr malerisches Werk.

Ich habe das Gefühl, heute ist viel mehr Bewegung in die Bilderbuchgestaltung gekommen. Es gibt sehr viele Menschen, die sie zu einem Schwerpunkt machen – und das finde ich spannend, denn für mich gibt es nichts Wichtigeres als Kinder- und Bilderbücher – auch wenn das sehr überspitzt formuliert ist. Was man als Kind gelesen hat, das prägt einen ein Leben lang. Und in meinen Augen sind gerade die Bilder so wichtig, denn sie sind es, an die man sich primär erinnert. Ich finde es schön, dass der Markt da aktuell so breit und vielfältig ist und dass man Kinder auch ab und zu  herausfordert und ihnen etwas Neues präsentiert, wie zum Beispiel das Thema Tod im Bilderbuch, das immer öfter explizit thematisiert wird – ebenso der Umgang damit. 

Was wünscht du dir für die Zukunft der Bilderbücher?

Wir schauen jetzt zurück auf eine sehr lange Geschichte der Bilderbuchillustration und ich finde es spannend, sich mit diesen vergangenen Positionen auseinanderzusetzen – egal in welcher Form – und zu vergleichen, wie es früher gemacht wurde. In diesem Medium ist schon so vieles passiert und ich bin neugierig, was noch alles kommt. Ernst Kreidolf hätte vielleicht selber gerne mehr ausprobiert, wenn er nicht so eingeengt worden wäre durch die kommerziellen Überlegungen von Verlagen und die Vorstellungen des Publikums. Ich wünsche mir, dass diese Freiheit, Dinge auszuprobieren und zu experimentieren, bestehen bleibt. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Ein Kommentar

  1. Suzanne Heygate

    Please could you let us know where we can buy Ernst Kreidolf’s “ Ein Wintermärchen“ translated into English. I have the book in German, but would love to have itinerary English for my grandchildren and their friends.

    Inlookmforward to hearing from you about the details where translations of various Kreidolfbooks can be bought.

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